1000 Kilometer Marokko – ein Kennenlernen

Im März 2024 bin ich von Spanien nach Marokko übergesetzt. Ein 72-Stunden-Roadtrip führte mich anschließend mitten durch dieses faszinierende Land. Dies ist mein Bericht.

Die Überfahrt

Es ist Dienstagmorgen. Von der Terrasse meiner Unterkunft sehe ich den Aufgang der Sonne über dem Felsen von Gibraltar. Nach zwei Monaten in Spanien genehmige ich mir in einer Bar vor dem Hafen einen letzten café con leche, einen Orangensaft und eine tostada. Dann fahre ich in das Hafengelände hier in Algeciras. Nach einer kurzen Überprüfung meiner Buchungsbestätigung für die Fähre, lässt man mich durch und ich darf als erster meinen Warteplatz einnehmen. Ich bin viel zu früh: von wegen zwei Stunden vor Abfahrt schließt der Check-in wie in der Mail beschrieben. Geöffnet wird erst eine knappe Stunde davor. Also warte ich. Ein leicht dubios wirkender Typ kommt heran spaziert, wedelt mit den kleinen Einreiseformularen, die man von den meisten Ländern kennt. Er erklärt mir, dass ich diese von ihm ausfüllen lassen muss. Ich vermute schon, dass er sich seinen Job ausgedacht hat.

Nun gut, ich höre ihn „20 Euro“ erwähnen, ignoriere das erstmal, lasse ihn in meinen Pass schauen und auch ein zweites Formular für mein Fahrzeug ausfüllen. Auch wenn das sicher nicht der offizielle Weg ist, will ich hier gerade keine Diskussion anfangen und lasse die Dinge geschehen. Er händigt mir die Formulare wieder aus, ich handele ihn auf die Hälfte runter, was ihn erst leicht echauffiert, er dann aber doch zufrieden weiterzieht. Kurze Zeit später bringt er mir noch eine Orange vorbei. Ein Marokkaner, der hinter mir mit einem vollgepackten VW-Bus hält, weiß es besser und winkt ihn einfach weiter. Als ich beiden anbiete ihnen einen Kaffee mitzubringen, erinnern sie mich daran, dass heute der erste Tag des Ramadan ist: keine Nahrung und keine Flüssigkeit bis zum Sonnenuntergang heißt das ab jetzt für einen Monat.

Etwas verspätet geht es dann tatsächlich auf die Fähre. Nachdem viele LKWs in den Bauch hineingefahren sind, darf ich mit verschiedensten Fahrzeugen auf dem Oberdeck parken. Die Arbeiter sagen mir, dass sie sich um das Angurten meines Zweirads kümmern. Ich vertraue gezwungenermaßen aber auch irgendwie wahrlich, gehe einige Treppenstufen hinauf und nehme in einem komfortablen Sitzbereich Platz. Die Überfahrt dauert etwa eine gute Stunde – Afrika kommt immer näher. Zwischendurch bekomme ich mit, dass ich meinen Pass hier stempeln lassen muss, stelle mich in die Schlange und als ich dran bin, weißt der Grenzbeamte mein Formular wenig überraschend zurück mit den Worten: „Hast du das geschrieben? Das kann ja kein Mensch lesen!“ Ich muss schmunzeln, erkläre die Geschichte und er nickt, als ich ihm das zweite Formular zeige und sage, dass das ja vermutlich nutzlos sei. Also fülle ich alles neu aus, er haut mir einen Stempel in den Pass und gibt mir eine Einreisenummer.

Von der Fähre rolle ich an Land, ein Beamter wirft einen kurzen Blick in meinen Pass, bevor mich am Ende des Hafengeländes die Zollkontrolle erwartet. Ich reihe mich ein in eine der zahllosen Schlangen mit PKWs, Rallye-Autos, Motorrädern, Transportern, Pickups mit Kennzeichen aus allen möglichen, vielen europäischen Ländern. Ein Uniformierter ruft mir kurz darauf freundlich aber bestimmt fragend zu, was ich denn hier mache, warum ich hier stehe. Ich bin einen Moment verdutzt, dann verstehe ich sein Winken: als Motorradfahrer muss ich hier nicht warten. Zwei Fahrzeuge setzen beiseite, sodass ich hindurch passe und einfach nach vorne durchfahren kann. Ein weiterer Grenzbeamter nimmt meinen Pass und Fahrzeugschein, verschwindet in einem Häuschen. Bevor er nach zwanzig Minuten wiederkommt und mir ein kleines, wohl wichtiges, Kärtchen mit meinen Daten aushändigt, beobachte ich das Treiben der Grenzkontrolleure, die zumeist mit breiten Schultern und recht stylischem Look herumspazieren. Immer das gleiche Prozedere: Fahrzeuge werden geöffnet, die ersten Schichten des, in einem häufig hochausgeklügelten Tetris-System verstauten, Gepäcks ausgeladen, in einige Kartons geschaut, manchmal schnüffelt noch kurz einer der Hunde im Innenraum, dann gehts weiter. Ich fahre aus dem Hafengelände, besorge mir an einem Häuschen noch eine Haftpflichtversicherung und bin auf marokkanischen Straßen.

Auf marokkanischen Straßen

40km südlich von Tanger mache ich Halt an einer Landstraße und setze mich in eine Art Wartehäuschen, auch wenn kein Schild oder ähnliches auf einen Bus hinweist. Die Wände sind voller Schriftzüge und Zeichnungen. Zwei runde Bögen ermöglichen mir den Blick auf ein weites Tal, welches laut Karte ein Stausee sein sollte. Auch wenn ich von diesem nichts sehe, wirkt es hier keinesfalls trocken: seit eineinhalb Stunden fahre ich durch komplett grüne Landschaften. Man könnte zwischendurch den Eindruck gewinnen, man befände sich im Allgäu oder in Hügellandschaften in Italien. Nun ja, fast. Viele Stromleitungen prägen das Bild, teilweise an Dörfer angrenzende Industriegebiete, ganz viele Kühe, Schafherden und Hirten, gelegentlich zügig die Fahrbahn querend. Viele Kreisverkehre, an denen Menschen Gemüse, Erdbeeren, frische Milch anbieten. Ich nehme ganz viel wahr, fühle mich voller Eindrücke, neben visuellen auch Gerüche von Fahrzeugen, deren Motoren schon ein paar Jahre mehr auf dem Buckel haben. Viel Landwirtschaft, das Leben wirkt aus meiner Perspektive als Durchreisender auf eine Art einfach. Nicht einfach im Sinne von leicht, sondern fokussiert auf Grundbedürfnisse, auf Nahrungsproduktion, Tierhaltung, Transport.

Ich bin nun nicht mehr in Europa, sondern an der nördlichen Spitze des riesigen Kontinents Afrika. Es kommen Erinnerungen auf an andere Länder des globalen Südens, in denen ich das Glück hatte leben und reisen zu dürfen. Wie viel Klischee habe ich im Kopf und wie viel nehme ich einfach wahr? Ich versuche mich auf letzteres zu konzentrieren. Es ist alles aufregend, ich liebe das Gefühl noch nicht zu wissen, wo ich nachher schlafe. Ich habe auch noch kein Bedürfnis mir eine Sim-Karte zu besorgen und mich mit der Welt zu verbinden. In einem Dorf holte ich mir zuvor an einem Stand ein paar kleine mit Gemüse und Gewürzen gefüllte Gebäcktaschen, die ich nun genieße. 

(Kleine Fotos wie diese können über einen Klick vergrößert angezeigt werden.)

Nachdem ich eine weitere gute Stunde gerollt bin, sehe ich am Straßenrand einen kleinen Container, wo groß auf Kaffee hingewiesen wird. Natürlich halte ich an, die große Siebträgermaschine ist aus, aber wie selbstverständlich schalten die zwei jungen Männer diese für mich an, ihr Vater reicht mir Plastikstuhl und -tisch und sie laden mich ein zu bleiben. Bis genug Druck aufgebaut ist, vergeht eine gute halbe Stunde. Ich habe keine Eile, beobachte das Geschehen. Zwischendurch schaue ich auf meine Karte, überlege welche halbwegs größere Stadt sich anbieten könnte für eine Übernachtung.

Kurz vor Sonnenuntergang komme ich in Ksar-el-Kebir an. Am Ortseingang halte ich kurz an, packe meine Kamera in den sich vor mir befindlichen Tankrucksack, finde auf der Karte ein „Hotel Centrale“. Hört sich gut an, denke ich. Über eine große Straße fahre ich vorbei am Bahnhof, an vielen Geschäften, biege dann leicht ab und befinde mich plötzlich inmitten vieler Menschen. Kurz vor Ende des Tages scheint im Ramadan die halbe Stadt unterwegs, um letzte Einkäufe zu erledigen, bevor dann nach dem Untergang der Sonne gegessen werden kann. Durch kleine Straßen schlingere ich mich in Richtung meines Hotels: als vor der Tür anhalte, werde ich freundlich empfangen, als wäre ich schon erwartet worden. Einer der Mitarbeiter, Muhammed, spricht Spanisch, zeigt mir mein Zimmer, ich lade ab, dann springt er hinten auf und führt mich zu meinem Stellplatz für die Nacht: an einer Ecke befindet sich hinter kleinen Mauern ein Parkplatz. Der Parkwächter, hinter dem ich im Empfangshäuschen ein simples Nachtlager wahrnehme, weist mir einen überdachten Platz zu, bittet mich mit einen netten Blick noch um ein kleines Trinkgeld zusätzlich zur Parkgebühr von etwa einem Euro.

Der Muezzin ruft

Zurück im Hotel frage ich, wie es aussieht mit der Essenszeit, wann die Restaurants während des Ramadan abends aufmachen. Das dauere noch ein bisschen, sagt mir der andere der zwei Mitarbeiter, und klopft kurze Zeit später, während ich Gepäck sortiere, an meine Zimmertür: ich öffne und er hält ein Tablett mit einem Teller kleiner Gebäcktaschen, Mini-Pizzen, einer Handvoll Datteln und einem Topf Harira, eine typische marokkanische Suppe mit Kichererbsen, Linsen, verschiedenen Gewürzen und Kräutern und kleinen Vermicelli-Nudeln. Was für ein Glück ich in diesem Moment spüre, könnt ihr euch denken.

Anschließend lädt mich Muhammed ein mit ihm etwas trinken zu gehen: in einem Café quer über die Straße nehmen wir Platz. Er erzählt vom Ramadan, dass er noch einige Minuten Zeit habe bis zum nächsten Gebet, zeigt mir auf seinem Handy einen Kalender für die nächsten 29 Tage mit den Uhrzeiten für Sonnenauf und -untergang, für Gebete und wann gegessen wird. Ob ich ihn in die Moschee für das Gebet begleiten könne, frage ich ihn mit dieser Antwort rechnend: nein, erklärt er mir, das gehe nicht. Man müsse sich vorher waschen, mit der richtigen Intention, und dabei an Gott denkend. Das müsse man auf eine Art erstmal lernen, meine ich dem zu entnehmen. Aber er gehe in eine andere Moschee für dieses nächste Gebet, da könne ich ihn begleiten, weil diese so voll wird, dass sich viele Leute draußen auf dem Gehweg einfänden. „Der Islam wird oft missverstanden bei euch in Europa“, sagt er.

Und auch ich merke kurz danach: wie sehr sind wir doch geprägt von dem, was uns in Nachrichten und Popkultur vermittelt wird und wie wir uns Unbekanntem aussetzen. Da kann ich mich noch so weltoffen fühlen, aber als die „Allahu akbar“ Rufe der Muezzine verschiedener Moscheen durch die Straßen klingen, nehme ich bei mir so etwas wie ein leicht komisches Gefühl wahr. Oder nennen wir es Aufhorchen, was wohl wenig überraschend ist bei der Wahrnehmung von Nichtvertrautem. Aber da ist eben doch ein bisschen mehr. Ich war lange nicht – eigentlich sehr selten – in Ländern mit mehrheitlich muslimischer Bevölkerung unterwegs und freue mich gerade hier zu sein.

Ich lasse die Gedanken ziehen, so wie dann alle in Richtung Moschee ziehen. „Alle“, denke ich, „ist aber doch der falsche Begriff“. Erstens sind es nicht alle, das Straßengeschehen geht weiter, und zweitens sind es nur männliche / männlich gelesene Personen, die in die Moschee gehen. Ich stehe am anderen Straßenrand und schaue mir das Gebet eine halbe Stunde lang an, die Mondsichel über der Moschee am Himmel liegend. Dann trinke ich noch einen Minztee, außen vor einer vollen, verrauchten Bar. Es läuft Fußball. Ich gehe früh ins Bett. Was für ein erster Tag in Marokko.

Kein Kaffee am Morgen und viele Kilometer

Am nächsten Morgen wache ich früh auf, packe meine Sachen weitestgehend zusammen und trete dann vor die Tür. Neugier und Lust auf ein koffeinhaltiges Getränk, treiben mich auf ziemlich verlassene Straßen, einige Personen bieten Waren an, der geschäftigste Ort ist noch eine Bäckerei. Tatsächlich, kein Café oder ähnliches hat geöffnet. Zurück im Hotel esse ich die letzten Datteln vom Vorabend und mache mich dann auf den Weg.

Am frühen Mittag sehe ich an der Landstraße eine Tankstelle mit einem Hotel und Restaurant mit geöffneten Türen: ich bekomme tatsächlich etwas zu trinken. Weiter geht es, vorbei an Menschen, die neben der Straße stehen, gehen, Schafe hüten, Fahrzeuge von PKW bis vollgepackter LKW, immer wieder auch Pferde-/Eselfuhrwerke und viele Rickschas, sobald ich näher an Städte und Dörfer komme. Dann wieder weite, grüne Landschaften, irgendwann gleite ich über eine Art Hochplateau: kilometerlang nichts als der immer gleiche Zaun, Weiden und Vieh.

Ich fahre eine Steigung hinauf, durch ein kleines Dorf, wo wie immer das Minarett der Moschee visuell heraussticht. Plötzlich eröffnet sich vor mir eine Wüste. Zunächst noch ockerfarbener Untergrund mit vereinzelten Büschen und Arganbäumen, dann wird der Sand rot. Eine Herde Schafe wird von ihrem Hirten über die Straße getrieben. Große Rinsale zeugen von heftigen Regenfällen. In der Ferne sehe ich tatsächlich Wolken und es fängt kurz darauf leicht an zu nieseln.

Im nächsten Ort angekommen – eigentlich sollte ich hier für die Nacht bleiben, um nicht weiter nass zu werden – spüre ich: das ist es noch nicht. Somit rolle ich einen weiteren Moment, durch Nichts, Weite, bei stetigen aber schwachen Tropfen. Als ich kurz darauf in Fkih Ben Salah ankomme, finde ich schnell ein Hotel. Beim Abladen reißt der Himmel am Horizont plötzlich auf und tieforangenes Abendlicht durchflutet für einen Moment die Straßen. Meine Frage nach einem Parklatz beantwortet der Hotelangestellte mit einem Fingerzeig auf die Tankstelle gegenüber. Dort frage ich nach und kann mein Gefährt über Nacht in einer der überdachten Werkstätten lassen.

So ganz verstehe ich das Timing immer noch nicht: wann machen denn nun genau die Restaurants auf? Wie auch immer, ich werde nach etwas Schlendern fündig an einer Ecke in einem kleinen familienbetriebenen Restaurant, wo der Kellner perfektes Italienisch spricht, weil er einige Jahre in Norditalien gelebt hat. Er betreibt den Laden mit seiner Mutter und seiner Frau, die kleine Tochter stolziert zwischen den Tischen, winkt und grinst immer wieder die Gäste an. Auch an diesem Abend falle ich positiv erschöpft und voller Eindrücke recht früh ins Bett.

Hinein nach Marrakech

Am Vormittag – Nebel durchzieht die Straßen, die dahinterliegende Sonne strahlt teils gleißend hindurch – begebe ich mich wieder auf meinen „Ich kann nicht glauben nirgendwo einen Kaffee finden zu können“- Spaziergang. Natürlich finde ich keinen und irgendwie freut mich das. Ich hole mir stattdessen am Ortsausgang eine lauwarme Cola an einem der bunten Läden. Der Besitzer lässt mich ein Foto von ihm machen.

Ich fahre einige Kilometer, biege rechts in eine Straße in einen Olivenhain ab, mache eine kurze Pause und trinke. Wie so oft auf Touren, bin ich dankbar für das Gefühl des Nichtwissens, wie weit und wohin es mich heute tragen wird. Dass der Tag heute sehr lang werden wird, darüber bin ich mir in diesem Moment noch nicht bewusst. Ich weiß nur, dass es in Richtung Marrakech geht und natürlich treibt mich mein Ziel, meinen Bruder im Süden an der Küste zu treffen, stetig weiter. Es ist schön so ein Ziel vor Augen zu haben, aber keinen Zeitdruck, wie eine kleine Mission, die ich erfüllen will und kann, so wie mir danach ist. Und es ist eine Freude in diesem Land zu fotografieren. Sei es auch aus der Hüfte beim Fahren – ich könnte gar nicht anhalten für jedes Motiv und so schnell wie sich die kontrastreiche Landschaft häufig wandelt. Ich halte natürlich trotzdem oft. So wie in diesem Moment: ich mache ein Foto von einem Kilometerstein, fühle das Glück der Ferne.

Strahlend blauer Himmel heute, auch die ersten Anblicke von glimmendem Asphalt in der Distanz. Spontan entscheide ich nicht dem Navi zu folgen, das mich um die große Stadt lotsen will, sondern geradewegs hineinzufahren. Breite Straßen, Trubel, an einem Kreisverkehr biege ich ab in Richtung Medina. Wenn schon, denn schon! Durch eine schmale Gasse, mit Geschäften und Marktständen zu beiden Seiten, manövriere ich mein schweres Gefährt einige Hundert Meter in Schrittgeschwindigkeit in die Altstadt hinein. Als ich einen Parkplatz sehe, winken mir auch gleich ein paar Jungs von einem Orangensaftstand zu. Ich parke, nehme nur meinen Tankrucksack mit Kamera und einigem Essentiellen mit; den Rest der Gepäcktaschen lasse ich angeschlossen am Motorrad. Es gibt ja einen Parkwächter, das wird schon klargehen. Das ist eine Sache bei Motorradreisen: die dicken Schutzklamotten bieten sich nicht unbedingt an für ausgedehnte Stadtspaziergänge und das Gepäck kann man auch nicht ständig mit sich rumschleppen.

Nach einem köstlichen Saft folge ich dem Tipp der drei Jungs und setze mich in ein kleines Restaurant, in dem zumindest äußerlich beurteilt nur Touristen sitzen – hier in Marrakech finden sich natürlich Mahlzeiten und Getränke zu jeder Tageszeit auch im Ramadan. Rauchschwaden ziehen in meine Richtung. Der Koch bereitet mit Leidenschaft und Ruhe ein Schawarma nach dem nächsten am Holzkohlengrill zu. Ich widerstehe nicht.

Im Anschluss gehe ich ein paar Schritte zurück zu einem Friseur, der mir zuvor aufgefallen war. Wenn die Haare länger werden, drückt mein Helm irgendwann. Also tue ich jetzt was dagegen. Ich lasse mir von einem Barbier mit Detailverliebtheit die Haare schneiden. Als ich zahlen möchte, sagt er: „gib mir, was sich richtig anfühlt.“ Boah, ich habe ein Gefühl, will aber weder zu wenig noch zu viel anbieten. Also bitte ich ihn um eine grobe Orientierung: „30 Dirham (ca. 3€)“, sagt er. Ich hätte meinem Gefühl vertrauen können.

Im Atlas

Ich werfe noch einen Blick auf meine Karte, stelle fest, dass ich sowieso durch Berge fahren muss, um zu meinen Zielort an der Küste zu gelangen. Dann sage ich mir: warum halb durch die Berge, wenn ich auch mitten hindurch fahren kann? Von Marrakech treibt es mich also geradewegs nach Süden, direkt in den Atlas. Irgendwie hat dieser Name etwas anziehendes für mich, einer dieser Begriffe, die Sehnsucht wecken, Abenteuerlust, hin da! Wie so häufig vor Gebirgen, fahre ich über eine Ebene darauf zu, dann kommen ein paar erste Hügel, eine letzte Kleinstadt. Ich tanke noch einmal voll, fahre dann in eine Schlucht, entlang sanfter Bergstraßen. Ein Blick herum auf unbekannte Erhebungen verrät mir, dass ich keine Ahnung habe, wo ich bin. Wunderbar!

An einer Stelle öffnet sich die erste Bergkette, zu meiner linken der Fluss Rheraya, einige Stände rechts am Straßenrand, dazwischen ich. Nach einem Augenblick realisiere ich, dass ich anhalten möchte, drehe um. Einige Männer spielen Karten an einem Tisch, einer sitzt mit seinen zwei Dromedaren am Fluss, weitere laufen umher.

„Willkommen im Land der Berber“ sagt einer zu mir. Mit ihm spreche ich ein wenig. Er fragt, wo ich herkomme, nach meinem Motorrad, wo ich hin will. Viele Gebäude seien vom Erdbeben noch zerstört, aber die Straßen wohl noch gut, erklärt er mir, als ich ihm von meiner Route erzähle. Ich weiß es in diesem Moment noch nicht: sie führt mich nun stundenlang Stunden bis in die Dunkelheit durch die Berge. Rote Erde, viele Felsbrocken, noch am Hang hängend oder neben der Straße liegend. Vorbei an einem Stausee, weiter hoch, ich passiere zahllose Dörfer, sehe viele Zelte, Hilfsinstallationen, die nach dem Erdbeben im vergangenen September hier für etwas Besserung sorgen. Ein Teil in mir sagt laut: „halte doch mal an, rede mit Leuten, mache Fotos. Du solltest, du könntest hier dies und das dokumentieren und erzählen.“ Aber ein anderer Teil treibt mich weiter, sagt: „Das ist gerade alles gut so, lass los.“ Diesem Teil folge ich.

Die Straße ist schon länger nicht mehr asphaltiert, ich kann teilweise nur in Schrittgeschwindigkeit die Schlaglöcher umkurven. Irgendwann nach über 20km Schotterpiste fahre ich auch wieder auf Asphalt. Als der Mond abgesehen von meinen Scheinwerfern die hellste Lichtquelle ist und ich soeben absurde Serpentinen hinaufgefahren bin, halte ich an, schalte den Motor aus und staune. Ich fühle mich alleine, aber keineswegs einsam. Bin mitten im Nichts, irgendwo in der endlosen Weite eines Gebirges, 2000 Meter über den Meeresspiegel. Ich spüre die ganze Größe der Welt und wie klein ich doch bin. Ein bisschen verrückt ist das alles. Was, wenn jetzt die Karre oder so aufgibt? Doch der Gedanke kann mich nicht beunruhigen. Selbst wenn… ich habe genug Wasser, Snacks und einen Schlafsack dabei. Natürlich geht alles gut und ich fahre im Anschluss etwa 10 Kilometer eine Bergstraße hinab mit Blick in die dunkle Ebene südlich des Atlas.

Im erstbesten Hotel checke ich ein, schleppe meine Klamotten in den dritten Stock, mein Zimmer befindet sich auf Höhe der Dachterrasse. Dann dusche ich, trinke noch einen Minztee, esse ein Omelett und lege mich schlafen.

Ankommen

Die Sonnenstrahlen wecken mich auf dem Kopfkissen. Einen Kaffee-Spaziergang versuche ich hier erst gar nicht, sondern schwinge mich direkt auf meine zwei Räder. Auf einer Nationalstraße gen Westen fahrend, sehe ich bald nichts als Plantagen. Der Duft von blühenden Zitrusbäumen durchströmt meine Nase. Kilometerlang geht das so weiter. Gerüche sind unterwegs sowieso mit eine der spannendsten Dinge und auf dem Motorrad befindet man ständig inmitten der Landschaft. Nicht abgeschottet in einem vierrädrigen Kasten, sondern allen Einflüssen ausgesetzt: von Hitze, Feuchtigkeit, Gerüchen, Rauch, Staub, Lärm sowieso. In der Stadt Taroudant frage ich in einem Hotel nach Frühstück und werde auf ein geöffnetes Restaurant verwiesen. Dort trinke ich einen Kaffee, unterhalte mich eine Weile mit einem Engländer. Jerry, seit einem Jahr in Rente, fährt auch seit Monaten mit seinem Zweirad herum. Seit einigen Wochen sei er hier, eine Familie habe ihm angeboten bei ihnen zu wohnen und so erkundet er nun die Gegend von seinem temporären Zuhause aus.

40km vor der Küste gibt es zum Mittagessen 100 Gramm Pistazien und eine Dose Cola an einem Highway bei Geräuschen vorbeifahrender Autos, eines knatternden Kühlschranks und eines dröhnenden Hochdruckreinigers. Kurz darauf fahre ich an der Großstadt Agadir vorbei, sehe schon den atlantischen Ozean, noch einmal stockender Verkehr und sich mit dem Schweiß vermischende heftige Staubwolken. Über mir eine futuristisch anmutende Seilbahn. Dann biege ich an einem Kreisverkehr ab hinter einer Polizeikontrolle, wie man sie hier am Eingang zu vielen halbwegs größeren Städten antrifft – und zumeist einfach durchgewunken wird. Ein paar Kurven noch, bevor ich nach drei vollen Tagen und 1000 Kilometern ein Gefühl von Ankommen verspüre, als ich meinen Bruder treffe. In Marokko am Meer. Mit Ziegen, die neben uns grasen.

P.S. Über diesen Link kann die Route nachvollzogen werden.

© Tilman Vogler Fotografie 2024

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