Die Beerdigung der Donna Grazia

Im Oktober 2019 verbrachte ich einen Monat in Süditalien. Ich wohnte bei der Familie eines Freundes in einem kleinen Dorf zwischen Neapel und der Amalfiküste. Neben vielen praktischen Erfahrungen wie Olivenpflücken und Weinproduktion, durfte ich der Beerdigung einer Frau beiwohnen. Hier ist mein Bericht dieses Tages.

Morgengrauen

Wir sitzen im Auto, in der Dunkelheit vor der Morgendämmerung geht es von Neapel in Richtung Süden. Drei Stunden Fahrt haben wir vor uns. Aus dem Radio schallt ein Lied. Es geht um Kaffeetrinken und Liebe. 

Fahrradfahrer sind auf Landstraßen unterwegs. Auf dem Weg zur Arbeit, zu den Feldern, den Gewächshäusern, in diesem Land der Artischocken und der mozzarella di buffala. Ich denke daran, wie viele Menschen heute wohl diese exquisiten Speisen genießen werden, in den schicken Hotels der Amalfiküste, keine 50km entfernt und keinen Gedanken daran verschwenden, unter welchen Umständen und von wem ihr Edelessen produziert wird. Eigentlich sollte doch kein Mensch Sonntagmorgens um 5 Uhr ohne Licht auf einer Landstraße zu einer 14 Stunden Schicht fahren (müssen).

Langsam geht die Sonne auf. Um uns herum wasteland. Halbfertige Betonstrukturen mit Verkaufsschildern. Gewächshäuser, Autohäuser, Menschenhäuser neben der Straße. Gefahren wird wie immer 30-40kmh schneller als erlaubt. Zum Glück ist noch wenig Verkehr, denke ich, als vor uns ein Auto für einige Sekunden in die Gegenfahrbahn ausschert. „Handy oder Schlaf“, sagen meine Gasteltern.

Im kleinen Ort Santa Cecilia halten wir an und frühstücken in einer Bar inmitten von Arbeitern die berühmten zeppole, kleine frittierte, süße Teigtaschen.


Nach einer Weile verlassen wir die Ebene wieder. Es geht etwas hoch. Wir fahren durch einen Tunnel. Als wir herauskommen, befinden wir uns mitten in den Wolken. Man sieht nur die Brücke, die wir überqueren, und kann noch wenig von der Landschaft erahnen.

Wir sind in einem Nationalpark. Alles fühlt sich wieder etwas friedlicher an, ich mache mir weniger politische Gedanken hier. Zu sehen sind nun neben einigen archäologischen griechischen Bauten, Kiwiplantagen und immer wieder Oliven. Dann nichts als dichte Wälder. Wow. Nur noch Brücken und Tunnel. Blicke in weite Täler, die sich bis zur Küste ziehen. Einzelne Steinhäuser an den Hängen.



Lentiscosa

Schließlich geht es zum letzten Mal hinab zur Küste. Vorbei an Stränden, wo im Frühsommer die Deutschen und im Hochsommer die Italiener*innen Urlaub machen, wie mir erklärt wird. Dann wieder steile Serpentinen hinauf. Wir erblicken unser Ziel: das von der Morgensonne erleuchtete Bergdorf Lentiscosa.


Wir sind früh dran. Nachdem wir die Familie begrüßt haben, die heute ihre Schwester, Mutter, Oma, Frau Grazia Perazzo beerdigen wird, schlendere ich ein wenig durchs Dorf. Ich trinke einen Capuccino in der Bar gegenüber der Kirche, wo schon Blumengesteck steht. Die Stimmung in der kleinen Dorfstraße vor dem Haus der Familie ist bedächtig. Morgendliches Glockengeläut. Aus der Bar holt der Sohn Kaffee für die schon Anwesenden.



Il funerale

Gegen halb zehn begeben wir uns in Richtung Ortsausgang. Dort wartet der Leichenwagen, über Nacht aus Mailand, dem Wohnort der Verstorbenen, in ihr Heimatdorf gekommen. Die Stimmung ist wiederum sehr bedächtig. Es ist dieses typische, traurig-schöne Begrüßen beim Wiedersehen von alten Bekannten zu diesem besonderen Anlass. Ich zögere zunächst mit meiner Kamera, fotografiere dann mit etwas Abstand und meist aus der Hüfte.


Der Leichenwagen fährt nun einige Meter vorwärts. Dann kommt der Priester, die Heckklappe wird geöffnet. Er sagt einige, mir weitgehend unverständliche Worte. Dann setzt sich der Wagen wieder in Bewegung und die große Trauergesellschaft geht ganz langsam durch die schmale Dorfstraße in Richtung Kirche. Ein Schauer zieht über meinen Rücken.


Der Gottesdienst kommt mir lang vor und die Worte des Priester klingen für mich zunächst etwas harsch. Von oben herab predigend, mit scharfem gerollten italienischen „r“ und einigen Minuten über Heiligkeit und die Ehe. Dann wird er persönlich, erzählt vom Leben und Charakter der Verstorbenen. Man merkt, dass er sie selbst lange kannte. Diese Frau, die in den 1950er Jahren aus ihrem kleinen Dorf alleine nach Mailand ging und ein Restaurant auf- und ausbaute, in dem seit langem auch alle ihre Kinder arbeiten. Auch aus späteren Gesprächen mit Bekannten lerne ich, was für eine bekannte und lebensfrohe, aber vor allem für viele Menschen inspirierende und bedeutende Persönlichkeit Grazia gewesen sein muss.


Nach der Zeremonie bewegen wir uns langsam in Richtung Friedhof. Dort wird der Sarg zunächst aufgebahrt. Eine lange Schlange, viele Umarmungen, warme Worte, Verabschiedung. Viele alte Menschen stehen zusammen. Ich werde mehreren Leuten vorgestellt und bekomme häufig erstaunte Kommentare darüber, wie mager ich doch sei… die Themen Essen, Gewicht, Aussehen sind ständig präsent. Auch hier.


Mittag

Ich bin nicht sicher, was nun folgt. Wie ich später erfahre, war eigentlich unsere Rückfahrt geplant. Doch als nahe Bekannte werden meine Gasteltern (und ich) von der Familie zum Mittagessen eingeladen. Im dritten Stock eines uralten Hauses bietet sich mir mal wieder eine sehr italienische Szene: die Frauen in der Küche, die Männer hängen auf dem Sofa ab und dürfen maximal beim Tischdecken helfen. Ich sage „dürfen“, weil ich freundlich zurecht gewiesen werde, als ich anpacken möchte. Nun gut, ich bin auch Gast – da geht das Helfen noch weniger.

Es gibt zunächst einen Teller pasta al sugo, dann polpette al sugo, dann salsicce con patate. Dazu pane, mozzarella und vino rosso auf dem Tisch. Es folgt der obligatorische espresso. Dann sind alle abgefüllt.

Eine Tante sagt zu ihrem Neffen: „Du hast aber auch ein paar Kilo zugelegt.“ Dieser Kommentar führt dazu, dass er am Tisch sein T-Shirt hochzieht, sich auf den Bauch klatscht und meint: „Komm schon, so viel größer ist der doch auch nicht…“


Ich gehe auf die Dachterrasse, rauche eine Zigarette, bestaune die Aussicht. Anschließend spazieren wir durch den alten Ortskern. Je höher man den Berg besteigt, desto verlassener sind die Gassen und zerfallener die Häuser. Traurig und wunderschön. Ich fühle mich erinnert an die Nachrichtenmeldungen über italienische Dörfer, wo Häuser zu Symbolpreisen angeboten werden, um wieder Bewohner*innen anzulocken.



Verabschiedung

Am frühen Nachmittag begeben wir uns mit etwa 25 engeren Angehörigen wieder in Richtung Friedhof für die Bestattung. Der Sarg wird in eine massive Wand gehievt, drei schwitzende Maurer schließen und verputzen in einer Dreiviertelstunde die Grabstätte. Die Sonne brennt, die Stimmung ist sichtlich gelöst. Die Menschen haben Abschied genommen, die Gespräche drehen sich wieder hauptsächlich um Themen des Lebens und Erinnerungen. Um Arbeit, Vorhaben, Reisen, Besuche.


Schließlich verabschieden wir uns und gelangen nach fünfstündiger Autofahrt mit viel Stau wieder nach Alberi. Ein langer Tag geht zu Ende und eine kurze Nacht beginnt. Am nächsten Morgen um 6 Uhr soll es mit unseren 250kg gepflückten Oliven zur Ölpresse gehen.

© Tilman Vogler Fotografie 2024

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