Wir sind Berliner*innen – Straßenportraits

Im Frühling 2017 bin ich durch die Straßen im Wedding, in Kreuzberg und Charlottenburg geschlendert und habe fremde Menschen angesprochen, interviewt und portraitiert. Ich habe sie gefragt, wer sie sind, woher sie kommen und was sie über Berlin denken.

Heinz (57)
Mir gefällt das Verrückte im Wedding, dass die alle nicht ganz dicht sind, weil ich selber nicht ganz dicht bin. Ich mag nicht, wenn das so trantütig ist und so weiter. Hier kann ich mir Tag oder Nacht mein Bier holen. Was mir auch gefällt: Die Leute hier im Wedding sind ehrlich. Und wenn – ich sage es so, wie es ist – man sich mal haut, dann ist es aber morgens wieder alles in Ordnung. Und ich bin Zugereister, bin in Uckermünde geboren.

Philip (27)
Ich bin seit zwei Monaten in Berlin und ziehe gerade um. Mein ganzes Leben ist in diesem Koffer. Ich bin wegen der Arbeit hier, weil ich Koproduzenten für einen neuen Film suche und von der kreativen Szene hier weiß. Und Berlin ist so frei! Ich bin schwul und in Belgien gibt es bestimmte Hetero-Normen. Hier kann ich komplett frei sein.

Diana (23)
Ich komme eigentlich aus Stuttgart. Ich kam für ein halbes Jahr für ein Praktikum und bin hier voll hängengeblieben. Und jetzt studiere ich hier Kulturwissenschaften. Die Toleranz und Offenheit hier sind großartig. Das Nachtleben auch. Was mich unruhig macht, ist die Gentrifizierung und dass jetzt an vielen Ecken diese Café- und Restaurant-Ketten aufmachen.

Ursula (60)
Ich bin Süddeutsche und gehe jetzt zu meinem Kurs, den ich seit 17 Jahren für Frauen gebe. Die Vielfalt und die Zwischenlösungen gefallen mir gut hier. Dadurch dass Berlin immer im Umbruch und Umbau ist, gibt es so viele tolle Zwischenlösungen, wo z.B. was altes, verfallenes von jungen Leuten mit Ideen übernommen wird. So wie der Prinzessinnengarten – das ist doch der Wahnsinn! So eine Leerfläche und dann wird daraus ein kleiner verwunschener Garten, wo man nach einer halben Stunden denkt, man ist mitten auf dem Land und nicht am Moritzplatz. So was finde ich toll an Berlin, irgendwelche Bars in Ruinen, die dann ein Jahr da sind und wieder geschlossen werden. Dieses Improvisieren.
Als Süddeutsche fand ich Berlin ja immer toll, weil es hier noch Einschusslöcher gab vom Krieg. Da hat man Geschichte gesehen! In Heidelberg, wo ich herkomme, da hieß es nur „Unser Dorf soll schöner werden.“ Alles sollte immer blitzeblank und hübsch sein.
Berlin ist großartig. Manchmal nervts, aber eigentlich ist es großartig.

Mohamed (34) + Stella (47)
Mohamed: Ich komme aus Syrien und bin seit fünf Jahren in Deutschland. Ich war vor dem Wedding im Prenzlauer Berg. Und im Vergleich finde ich Wedding besser. Ich fühle mich nicht so fremd hier.
Stella: Ich komme ursprünglich aus dem Ruhrgebiet, aber bin seit 27 Jahren hier. Berlinerin bin ich also noch nicht – das ist man ja erst nach der dritten Generation… Am Wedding gefällt mir besonders, dass hier so gemischte Leute sind.

Fanni (25)
Ich komme aus Ungarn und bin seit einem Jahr in Berlin, die meiste Zeit davon im Wedding. Der Grund, dass ich im Wedding wohne, ist, dass ich hier eine Wohnung gefunden habe. Mir gefällt es hier und es wird immer besser. Es gibt ja viele Vorurteile über den Wedding, es sei dreckig hier und ghetto-mäßig. Aber das stimmt nicht, finde ich.

Pierpaolo (52)
Ich komme ursprünglich aus Italien und wohne hier in der Nähe. Ich bin verheiratet und pendle zwischen Berlin und Sardinien. Übernächste Woche gehts wieder zurück in die Wärme. An Berlin gefällt mir das Fahrradfahren.

Erika (75)
Ich wohne seit 55 Jahren im Wedding. Geboren bin ich in der Tschechoslowakei. Ich bin gelernte Kinderkrankenschwester und habe Hauswirtschaft mit Diplom gemacht. Ich habe vier Kinder großgezogen. Ob ich meine Freizeit im Alter genieße… Ich mache natürlich nach wie vor viel für meine Kinder. Ewig Mutter.
Mir gefällt, dass es hier viel grün gibt, die Rehberge, der Schillerpark. Und immer wenn ich mal in einem anderen Bezirk bin, freue ich mich schon wenn der Bus in den Wedding kommt – mein Zuhause. Ich möchte gar nicht woanders hin. Wedding ist Wedding.

Haki (70)
Ich wohne seit 1972 hier. An Berlin gefällt mir alles. Hier in meiner Nachbarschaft in Kreuzberg kann ich jederzeit rausgehen, was zu essen holen oder einkaufen gehen. Hier ist immer Leben in der Straße. Wir haben auch den Park hier. Aber der ist nicht mehr so wie früher. In letzter Zeit ist es voll hier mit den Süchtigen. Und das gefällt mir überhaupt nicht. Ich habe Enkelkinder und wir gehen ab und zu dort hin. Die Kinder sind klein und sie sammeln Sachen. Woher soll ich wissen, ob sie nicht eine Spritze anfassen? Das macht mir Angst.

Mathieu (31)
Ich wohne direkt hier nebenan. Ich finde es schön, dass ich alles zu Fuß erreichen kann und dass es hier in Kreuzberg ein schönes Kiezleben gibt mit vielen Leuten auf der Straße. Es gibt zahllose Restaurants und Cafés, so dass ich einfach hier in der Nähe essen und etwas neues entdecken kann. Und die Menschen sind sympathisch. Es ist eine familiäre Atmosphäre, aber keine Dorfatmosphäre. Die Leute spionieren einem nicht nach und wissen nicht unbedingt, was der andere tut. Aber trotzdem kann man viele Leute kennenlernen.
Ich bin Schauspieler und mein Beruf hat mich nach Berlin geführt. Ich war in Barcelona, als mir von Deutschland erzählt wurde: wie toll es hier ist und wie viel Geld in Kultur investiert wird. Natürlich habe ich nicht geahnt, wie viele andere Leute sich genau das gleiche gedacht haben. Nach einigen unglücklichen Jahren hat es dann doch geklappt. Jetzt kann ich davon leben und muss nicht mehr kellnern.
Ein Rat, den ich jungen Schauspielern geben würde? Schon wissen, was man machen will. Nicht darauf warten, dass die Stadt es dir präsentiert. Es kann passieren, aber wenn man keine Ahnung hat, verliert man sich leicht.

Julia (29)
Ich komme aus Brandenburg und wohne jetzt seit fast neun Jahren im Wedding. Ich mag, dass es so multikulturell ist hier. Ich habe Freunde hier und es ist so entspannt hier. Ehrlich und nicht so aufgesetzt.

Cihan (32)
Ich komme aus Reinickendorf. An Berlin gefällt mir, dass es Multi-Kulti ist. Die Art und Weise wie die Menschen mit Problemen umgehen ist lustig. Sie sehen das eher lockerer, gehen lockerer mit Problemen um.

Elisabeth (65)
Ich wohne seit 40 Jahren im Wedding und wohne alleine da drüben in dem grünen Haus. Ich finde den Wedding interessant und es ist spannend, wie sich der Kiez verändert hat. Also wenn ich daran denke, dass hier mal ein Gemüseladen war, da ein Kino, da ein türkischer Gebetsraum, dann war DM drinne und jetzt ist hier Physiotherapie und da hat jetzt erst vor Kurzem ein Ort für betreutes Wohnen für Jugendliche und für alleinstehende Mütter aufgemacht… finde ich ganz gut. Der Wandel gefällt mir. Es ist interessant. Und ich arbeite einmal in der Woche ehrenamtlich in der Osterkirche.

Nico (8)
Ich bin wiedergeboren. Ich bin jetzt acht. Wedding ist super. Es ist hier nicht gefährlich, alles ist wunderbar. Was wir der Welt geben, das bekommen wir zurück. Das ist das Prinzip.

Esther (27)
Ich komme aus Köln und wohne seit drei Jahren hier. Am meisten gefällt mir die Vielfalt und dass jeder so sein kann, wie er möchte. Und das man keine Angst vor irgendwas haben muss.
Warum ich nach Berlin gekommen bin? Wegen Berlin. Also ich wollte eigentlich fürs Studium irgendwo hinziehen und wurde in anderen Städten angenommen. Außer in Berlin. Bin aber trotzdem hierher. Im Endeffekt hat es auch hier geklappt und ich studiere jetzt Kunstgeschichte.
Ich finde jede Ecke in Berlin hat was. In dieser Gegend gibt es auf jeden Fall viele Touristen. Aber es gefällt mit, dass man viele Gesichter sieht, sobald man auf die Straße geht.

Mohamed (28)
Ich bin 2012 nach Berlin gekommen. Es gefällt mir nicht so gut im Wedding, Neukölln gefällt mir besser. Da habe ich vorher drei Jahre gewohnt. Ich habe viele Freunde dort, aber hier kenne ich gar keinen. Und hier ist es immer so laut.
Ich musste aus meiner Wohnung raus, war drei Monate bei meinem Onkel in Hamburg. Dann bin ich zurück nach Berlin zu meiner Schwester und suche seitdem eine Wohnung. Ich suche schon seit einem halben Jahr, aber habe leider noch keine gefunden. Man muss den Maklern so viel zahlen, 3000 oder 4000€. Nicht Kaution, sondern schwarz. Sie sagen mir: gib mir Geld und ich suche für dich. Jetzt habe ich über das Jobcenter eine Unterkunft und teile mir ein 6qm großes Zimmer mit jemand anderem.

Kapil (25) & Chaitali (25)
Wir sind seit sechs Monaten in Berlin und studieren hier. Wir kommen aus Indien. Uns gefällt Berlin sehr, aber es ist so kalt hier. Am meisten vermissen wir unsere Familien.

Wael (38)
Ich bin seit acht Jahren hier im Wedding, bin ich Kreuzberg geboren, habe in Köln und London gewohnt. Seit sechseinhalb Jahren habe ich den Laden hier. Wedding ist ein Multi-Kulti-Bezirk. Es kommt immer was Neues. Das Negative ist, dass die Mieten extrem teuer werden. Es ist aber schön, dass immer mehr Künstler in die Gegend kommen und dass die Ecke lebendiger wird. Aber ich merke extreme Veränderung. Vor allem die Leute mit wenig Geld haben Probleme mit den steigenden Mieten und müssen teilweise ausziehen. Es gibt Vor- und Nachteile.

Claudina (31), Lilly & Rosa (4)
Das Outfit… ja das ist im Moment unser Alltag. Es ist jeden Tag Fasching.

Helga (76)
Wie soll man Berlin beschreiben…jeboren bin ick sowieso 1940, war zwei Mal verschüttet als Kleinkind. Also sagen wa mal, die Berliner sind an und für sich ja aufjeschlossen. Aber manche werden eben immer zickiger und man wird vorsichtiger, weil man oft überfallen wird. Meine Freundin, die ist 62, hamse am Kaiserdamm in der U-Bahn überfallen.
Et wird nicht einfacher – man muss immer aufpassen. Mir habense auch schon mal meine Handtasche auf der Rolltreppe jeklaut. Ist leider nicht mehr so witzig – so viel jeklaut wurde nie.
Neulich hab ick auf der Rolltreppe jesehen, wie der eine einem hinten aus der Hosentasche das Portemonnaie jezogen hat. Und da hab ick jerufen: ‚Diebe, Diebe! Anhalten, anhalten!‘ Und dann hamse sich umjedreht und sind dann auch abjehauen. Also ick meine, die hätten mich ja auch irgendwie…weiß man ja nie… aber ick hab det gesehen, auch wenn ick kleen bin.
Naja ansonsten, ick habe mich schon immer durchjesetzt.

Anastasija (22)
Ich komme aus Moskau. Das ist vielleicht ein Klischee, aber Berlin ist wirklich die Stadt der Freiheit für mich – was ganz verschiedene Sachen betrifft. Man kann hier aussehen, wie man will. Man kann tun, was man will und seine eigene Meinung frei äußern. Das ist anders als im Moment in Moskau.

Emily (52)
Berlin ist eine sehr schöne Stadt. Ich lebe schon dreißig Jahre hier und liebe Berlin. Es ist ein bisschen chaotisch, aber das ist okay. Berlin ist unvergleichbar mit anderen Städten. Ich komme ursprünglich aus Kamerun, also bin ich Halb-Berlinerin.

Naveed (39)
Ich komme aus Pakistan und lebe in der Nähe von München in einem kleinen Dorf. Ich bin letzte Woche nach Berlin gekommen, weil ich zur Botschaft musste. Am Hauptbahnhof bin ich nach der langen Fahrt kurz eingeschlafen. Als ich wieder aufgewacht bin, waren mein Geld, mein Rückfahrticket und mein Ausweis weg. Ich war bei der Polizei. Ich habe kein Geld um mir ein Ticket kaufen, also habe ich mich einfach so in einen Zug zurück gesetzt. Aber der Schaffner hat mich wieder rausgeworfen und mir eine Strafe gegeben. In vier Tagen soll mein neuer Ausweis fertig sein. Den brauche ich, um Geld bei der Bank zu holen. Im Moment schlafe ich nicht. Ich sitze die ganze Zeit wie hier auf einer Bank. Vielleicht finde ich ja einen netten Pakistani, der mir helfen kann. Meine Familie ist noch in Pakistan, weil ich kein Visum habe, sondern nur eine Duldung. Und mit einer Duldung kann ich meine Familie nicht nachholen und nicht arbeiten. Ich hatte früher ein Geschäft in Pakistan, aber bin 2013 geflohen, weil jemand dachte, ich hätte ihn bei der Polizei verpfiffen. Das ist Quatsch, aber sein Clan will mich umbringen. Die Region, aus der ich komme, ist voller Terroristen. Ich kann das alles beweisen, aber man will mir kein Visum geben. Ich bin auch nach Dänemark und Holland gefahren, aber dort hat man mich zurück nach Deutschland geschickt, weil ich hier registriert bin. Ich frage mich manchmal, was ich hier mache. Vielleicht gehe ich dieses Jahr zurück. Aber das geht nicht. Ich fühle mich allein, meine Frau und meine Kinder sind weit weg. Sie sind damals zurück zu ihrer Familie gegangen. Die einzige Chance für sie zu kommen ist als Flüchtlinge über Land und Wasser. Aber das kostet mindestens 20-30.000$. Und ich will das auch nicht – nach dem, was ich erlebt habe. Ich bin von Pakistan durch den Iran in die Türkei geflohen. Wir mussten da über ein Gebirge mit ganz gefährlichen Pfaden. Ich habe noch nie so viele tote Körper gesehen. Menschen, die einfach abgestürzt sind. Von der Türkei sind wir in einem kleinen Boot nach Griechenland gefahren. Ich hatte solche Angst. Die Reise hat mich 10.000$ gekostet und fünf Monate gedauert.

© Tilman Vogler Fotografie 2024

Datenschutz | Impressum